Gastautor Florian Finkenstein, arete GmbH
Deutschland ist reich, satt und alt. Das habe ich vorhin gelesen und dachte – Stimmt!
Dieses Statement wurde als Begründung dafür genannt, dass die Situation im Land so ist, wie sie ist.
Zunächst leuchtete mir das ein, denn jede Veränderung wird ja anscheinend als Verschlechterung wahrgenommen und auf jeden Fall erstmal beargwöhnt.
Bei längerem Nachdenken habe ich aber gemerkt, dass dieser Gedanke eigentlich nicht schlüssig ist. Wieso soll jemand der alt ist, automatisch Veränderung scheuen? Ich habe die Menschen in meinem Bekanntenkreis mal in den Blick genommen und da genau so viele neugierige und abenteuerlustige Alte wie verpupte Junge gefunden. Nee, das Alter als Begründung trägt nicht.
Reichtum finde ich noch weniger schlüssig als Begründung: die meisten Wohlhabenden, die ich kenne, sind extrem umtriebig und genervt von der geringen Veränderungsgeschwindigkeit. Auch meine Bekannten am anderen Ende des Spektrums, die von der Hand in den Mund leben, sind nicht veränderungsscheu, sondern suchen nach Veränderung, die eigentlich nur Verbesserung sein kann. Am ehesten sind die mittelgut Versorgten veränderungsscheu. Sie haben gerade die Möglichkeit ergattert, mal nicht jeden Euro umzudrehen und Fürchten Verschlechterung. Aber da sind Ursache und Wirkung eher umgekehrt: wären sie wohlhabender, würden sie mutiger.
Drittens satt. Wer satt ist, hat Energie für ein aktives Leben. Überfressen, ok, wäre nicht hilfreich. Aber sind wir das wirklich? Passt auch nicht zu meinen Erfahrungen. Ich beobachte eher einen Hunger nach Erlebnissen und Zertreuung. Vielleicht sind wir nicht satt, sondern hungern nur nach dem Falschen? So wie Zuckersucht ja auch nichts mit Hunger zu tun hat.
Und hier setzt meine Überlegung an: Beim übermäßigen Verlangen nach Zucker hilft auch nur Karenz. Und die macht ein oder zwei Wochen lang richtig schlechte Laune. Es braucht den gesellschaftlichen Konsens, dass mit der Änderung unseres gesellschaftlichen Mindsets zunächst Unwohlsein verbunden sein kann.
Es ist jedoch das eine, Unwohlsein ungeplant zu erleiden oder geplant zu erleben. Diese Wahrheit gehört auf den gesellschaftlichen und politischen Tisch! Wenn wir weiter im Wohlstand leben wollen, müssen wir bereit sein, uns Einschränkungen aufzuerlegen.
Andere Gesellschaften machen es uns vor. New York wurde nach 9/11 von der Corona-Krise viel härter getroffen als Deutschland. Menschen wurden mit Planierraupen in Massengräbern verscharrt, Tausende gingen pleite, Obdachlosigkeit und sozialer Absturz waren die Folgen. Die New Yorker sind im Schnitt sicher reicher und satter als wir, beim Alter bin ich mir nicht sicher – sie haben aber nicht verzagt in den Scherben früheren Glanzes gesessen, sondern sofort den Blick nach vorn gerichtet, die vorhandenen Potenziale genutzt und sind durchgestartet. Eine Transformation, deren Ergebnis noch keiner richtig abschätzen kann, aber bereits jetzt ist eines klar: die lassen sich nicht unterkriegen. Und zwar durch alle sozialen Schichten. Der Bauarbeiter mit dem T-Shirt, wo „we build best NY ever“ draufsteht, der kleine Laden, der selbstbewusst neben den Luxusmarken Kleinkram und Kaffee verkauft, die Investoren, die aus den wegen Homeoffice leeren Bürotürmen sofort in aller Welt begehrte Wohnungen machen – sie alle haben begriffen, was uns so ein bisschen weggerutscht ist: survival of the fittest bedeutet, dass vergangene Erfolge NICHTS wert sind im Wettbewerb um die Zukunft. Sondern nur die Fähigkeit, sich immer und immer wieder anzupassen. Ich höre in Deutschland immer wieder Gejammer über den Verlust der „Weltspitze“ und das Abrutschen in sämtlichen Rankings. Ok, als Problembeschreibung brauchbar. Als Begründung für Festhalten an der Vergangenheit und Versuche, diese wieder zu erwecken ganz falsch.
Wir haben tolle Zutaten und Potenziale. Mit dem aktuellen Mindset machen wir aber ein ums andere Mal nichts daraus.
Das muss anders werden. Und hier setzt mein Apell an: wir dürfen nicht warten, bis die Politik oder gar die Verwaltungen uns den Weg frei machen. Wir müssen analog zu den Großdemos „für Demokratie“ eine Bewegung „für Zukunft“ anschieben. Und zwar wir selbst. Nicht warten, dass einer es macht, sondern selber machen. Nicht auf Förderung warten, sondern gründen und am Markt beweisen. Nicht die anderen bezichtigen, sondern Gas geben, nicht jammern sondern besser machen. Eine klimaneutrale Industrienation als neuer Macher in Europa statt weltpolitischer NPC.
Ich habe für mich die Entscheidung getroffen, nicht länger zu warten. Ihr seid alle eingeladen, Euch anzuschließen.